Epigenetik: Psychotherapie für die Gene?

Epigenetik: Psychotherapie für die Gene?

Die Kraft des Epigenoms

Histonmodifikationen, DNA-Methylierung und miRNA (microRNA) stellen epigenetische Modifikationen dar, die in ihrer Gesamtheit („Epigenom“) die Aktivität der Gene regulieren. Desoxyribonukleinsäure (DNA) ist wie eine Perlenkette und mehr oder weniger fest um bestimmte Proteine, die Histone, gewickelt. DNA kann in sehr dicht gepackten Bereichen nicht gelesen werden. Das Erbgut ist hier inaktiv. Molekulare Teile auf den Histonen verändern die Dichte und damit das Ausmaß, in dem die Gene zugänglich sind. Zusätzlich verhindern an die DNA gebundene Methylgruppen, dass der Lesevorgang an bestimmten Punkten beginnt. Selbst bereits gelesene Gene haben möglicherweise nicht unbedingt eine Wirkung – nämlich wenn miRNA an die Messenger-RNA (mRNA) bindet, die die Informationen für das zu produzierende Protein enthält. Infolgedessen blockiert es die Proteinsynthese oder bewirkt sogar, dass die Messenger-RNA schnell abgebaut wird.

Die Hypomethylierung wird verursacht durch FKBP5 möglicherweise aufgrund von Stress in der frühen Kindheit, nämlich über Cortisol selbst. Elisabeth Binder und ihre Kollegin Torsten Klengel haben diesen Zusammenhang vor einigen Jahren mit Hilfe menschlicher Gehirnzellvorläufer untersucht: Als sie dem Nährmedium der Zellkulturen das Stresshormon hinzufügten, ging es verloren FKBP5 einige der Methylgruppen in den Zellen.

Überraschenderweise beeinflusst das Trauma bei Erwachsenen nach heutigem Kenntnisstand kaum die Methylierung von FKBP5. „Diese Zusammenhänge sind noch nicht vollständig geklärt“, sagte Angelika Erhardt, Angstforscherin am Max-Planck-Institut in München. „Es gibt eindeutig besonders gefährdete Stadien in der frühen Kindheit oder später in der Pubertät, in denen Stress auf molekularer Ebene einen wesentlich größeren Einfluss hat.“

Es gibt auch andere Faktoren, die das Krankheitsrisiko beeinflussen und die Untersuchung der Ursache noch komplizierter machen. Neben der epigenetischen Gravur spielt natürlich auch die genetische Information eine Rolle. Beide bei FKBP5 sowie bei MAOA-Gen gibt es zum Beispiel mehrere Varianten, die per se viel aktiver sind – ohne epigenetischen Einfluss. Wenn diese „Risikogene“ durch Hypomethylierung noch stärker aktiviert werden, wird es schwierig. „Wir sehen diese Wechselwirkung sehr deutlich in der Monoaminoxidase A“, erklärt die Freiburger Wissenschaftlerin Katharina Domschke. „Dies kann zum Beispiel bedeuten, dass wir zuerst das doppelt aktivierte MAOA-Gen pharmakologisch hemmen müssen, bevor die Patienten auf eine Psychotherapie ansprechen können.“

Die Zahl der Befunde, die auf einen Zusammenhang zwischen Epigenetik und psychischen Erkrankungen hindeuten, wächst und damit die Hoffnung, die Befunde klinisch nützlich zu machen. „Wenn wir mithilfe molekularer Marker testen können, ob die Funktionalität des Stresssystems durch Umwelteinflüsse in der frühen Kindheit verändert wurde, können wir möglicherweise vorbeugende Maßnahmen ergreifen, bevor eine psychische Erkrankung ausbricht“, erklärt die Max-Planck-Forscherin Angelika Erhardt. Wird es jemals eine Art Blutuntersuchung geben, die zeigt, für wen vorbeugende Maßnahmen besonders wichtig sind? „Das ist noch weit weg“, betont Erhardt. Vielmehr wäre es möglich, die Patiententherapie auf der Grundlage von Forschungsergebnissen maßzuschneidern. „Es gibt zum Beispiel Hinweise darauf, dass Menschen mit einem bestimmten Methylierungsprofil auf bestimmte Arten der Behandlung nicht so gut ansprechen“, sagt sie. „In solchen Fällen könnte die epigenetische Information verwendet werden, um die vielversprechendste Therapieform auszuwählen.“

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Zum Beispiel bei Depressionen: Heutzutage verfügen Mediziner über ein ganzes Arsenal verschiedener Medikamente zur Behandlung der Krankheit. Allen gemeinsam ist, dass sie in den Stoffwechsel des Gehirns eingreifen und so die Konzentration wichtiger Botenstoffe wieder ins Gleichgewicht bringen. Sie tun dies jedoch auf unterschiedliche Weise und arbeiten nicht für alle gleich gut. Viele Patienten finden ein Präparat, das ihnen erst nach mehreren erfolglosen Versuchen hilft. Ein anstrengender Prozess, zumal es oft einige Wochen dauert, um herauszufinden, ob ein bestimmtes Antidepressivum wirkt. Der Grund: Das Gehirn muss sich zuerst anpassen.

Dies gilt beispielsweise für die sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer SRI (die Abkürzung steht für „Serotonin-Wiederaufnahmehemmer“). Serotonin wird von bestimmten Nervenzellen an den Synapsen freigesetzt und wirkt nicht nur angstlösend, sondern auch stimmungsfördernd. SRI verhindert, dass die Botenstoffsubstanz nach ihrer Freisetzung zu schnell zur spendenden Nervenzelle zurücktransportiert wird. Daher sollte mehr Serotonin die Empfängerzellen erreichen und somit eine stärkere Wirkung entwickeln. Aber die Nervenzellen sind nicht so einfach zu manövrieren. Weil die Serotonin-produzierenden Zellen selbst eine Serotonin-Sonde haben. Wenn der SRI in der synaptischen Spalte die Menge an Glückshormon erhöht, reduzieren sie einfach die neue Produktion des Senders. SRIs können somit verhindern, dass Serotonin in die Zelle zurückgeführt wird. Gleichzeitig verlangsamen sie die Ausbreitung, was dem Effekt entgegenwirkt.

„Es gibt eindeutig besonders gefährdete Stadien in der frühen Kindheit oder später in der Pubertät, in denen Stress auf molekularer Ebene einen signifikant größeren Einfluss hat.“
(Angelika Erhardt, Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München)

Aber – und hier kommt die Epigenetik ins Spiel – verliert die Sonde normalerweise nach einigen Tagen an Empfindlichkeit. Erst jetzt beginnt das Medikament wirklich zu wirken. Studien zufolge scheinen jedoch bestimmte epigenetische Schalter zu verhindern, dass der Serotoninrezeptor bei einigen Patienten stumpf wird. Die Betroffenen sprechen daher nicht auf eine SRI-Behandlung an. Wenn Sie im Voraus über ihre epigenetische Tendenz Bescheid wüssten, würden Sie sofort ein anderes Medikament wählen.

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Viele dieser Ergebnisse zur Epigenetik müssen mit Vorsicht behandelt werden. Das Forschungsfeld ist zu jung, die Stichproben vieler Studien sind zu klein und die damit verbundenen Krankheiten zu komplex. „Psychische Störungen haben nie eine Ursache“, betont Angelika Erhardt. „Ob wir krank werden oder nicht, hängt von der Kombination vieler Risiko- und Schutzgene sowie ihrer Epigenetik ab. Und dieses Rätsel ist noch nicht ganz gelöst, wie interessant die einzelnen Ergebnisse auch sein mögen. „“

Fragezeichen und Streitpunkte

Es gibt auch methodische Mängel. In der Regel können Forscher epigenetische Veränderungen im Gehirn erst nach einem Trauma in der frühen Kindheit feststellen, beispielsweise in Tiermodellen oder bei verstorbenen Menschen. Sie verwenden oft Blutproben von lebenden Menschen. Es besteht Grund zu der Annahme, dass aus der Methylierung in Blutzellen einige Schlussfolgerungen über die Methylierung in Gehirnzellen gezogen werden können. Und was MAOA Amerikanische Neurowissenschaftler unter der Leitung von Elena Shumay bestätigten sogar mit Gehirnscans, dass je mehr das Gen in Blutzellen methyliert ist, desto weniger das entsprechende Enzym im Gehirn von Probanden gefunden wird. Dennoch ist die Messung epigenetischer Marker im Blut eine schwerwiegende Einschränkung, die bei der Bewertung der Ergebnisse berücksichtigt werden muss, betont Katharina Domschke. In vielen Fällen ist auch noch nicht nachgewiesen, ob die betrachteten Methylierungen die Aktivität des betreffenden Gens wirklich beeinflussen.

So aufregend die Ergebnisse auch sind, es gibt immer noch viele Fragezeichen. Können epigenetische Veränderungen beispielsweise von Mutter oder Vater an Kinder weitergegeben werden? Einige Forscher haben festgestellt, dass Traumata weiterhin die Enkelkinder betreffen können – indem sie die epigenetische Gravur beschuldigen, die an die Nachwelt weitergegeben wird. Soweit wir jetzt wissen, werden die meisten Marker in Säugetiereiern und Spermien zunächst auf die „Werkseinstellung“ zurückgesetzt. Unter Experten ist es daher sehr umstritten, ob es beim Menschen eine generationenübergreifende epigenetische Vererbung gibt.

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Epigenetik bei psychischen Störungen

Obwohl jede Zelle eines Organismus dieselbe genetische Information (Nukleotidsequenz) enthält, sind je nach Zelltyp und Umweltsituation nur bestimmte Gene aktiv. Die Genaktivität wird teilweise durch „epigenetische“ Faktoren wie Methylgruppen an der DNA reguliert. Wenn sie sich an bestimmten Stellen befinden, verhindern die Anhänge, dass der Lesevorgang beginnt. Wenn ein Risikoauge auf diese Weise „gedämpft“ wird, hat dies keine negativen Auswirkungen. Dieser epigenetische Abdruck ist relativ stabil und bleibt während der Zellteilung im Gewebe erhalten. Umwelteinflüsse wie Ernährung oder Trauma können dies jedoch ändern und im schlimmsten Fall Krankheiten fördern. Umgekehrt zeigen Studien, dass geeignete therapeutische Interventionen ein gesundes Methylierungsmuster wiederherstellen können.

Iris Kolassa, Leiterin der Abteilung für Klinische und Biologische Psychologie an der Universität Ulm, präsentierte 2019 eine Studie zum Thema der Vererbung epigenetischer Abdrücke. Das Team untersuchte schwangere Frauen, die als Kinder missbraucht worden waren. Sie taten dies im Vergleich zu einer Kontrollgruppe FKBP5In Blutzellen hypomethyliertes Gen. Das epigenetische Muster der Mütter wurde jedoch bei den Neugeborenen nicht gefunden. „Für mich ist die Frage nach dem epigenetischen Beitrag zu psychischen Störungen noch nicht endgültig beantwortet“, sagt Kolassa. Traumatischer Stress wirkte sich auf vielen Ebenen aus: „Epigenetik ist nur eine davon.“

Anja Juchem hat jetzt ihre Panikattacken überwunden. Mit einer Therapeutin für ‚Somatic Experiencing‘ lernte sie, ihre Gedanken während des Angriffs von ihren körperlichen Empfindungen zu trennen. „Dadurch wurde mir klar, dass die Gefühle der Angst immer an erster Stelle standen“, sagt sie. „Dann habe ich mich für die richtige Geschichte entschieden, den Grund für meine Panik.“ Diese Einsicht half ihr zu erkennen, wie wenig bedrohlich die Situation wirklich war. Nach nur wenigen Sitzungen fühlte sie sich deutlich besser; Einige Monate später verschwanden die Angstattacken – genauso plötzlich wie sie kamen.

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